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Samstag, 27. Nov. 2021

Hass und Antisemitismus sind im Netz sichtbarer

Rabbiner Nachama Antisemitismus 70 Jahre Geburtstag

Rabbiner Andreas Nachama wird am 27. November 70 Jahre. Der Sohn jüdischer Holocaust-Überlebender ist bereits im Elternhaus mit interreligiösem Dialog in Berührung gekommen, dank der Freundschaft seines Vaters, des Kantors Estrongo Nachama, mit dem Pazifisten und evangelischen Theologen Heinrich Grüber. Die ersten Schritte im jüdisch-christlich-muslimischen Austausch machte er bereits als Student vor fast 50 Jahren. Bis heute setzt sich Nachama, seit 2015 als Präsidiumsmitglied im House of One, seit 2019 auch als Vorsitzender der Allgemeinen Rabbinerkonferenz für die Verständigung zwischen den Religionen ein. Ein Gespräch mit dem Historiker und einstigen Gründungsdirektor der Topographie des Terrors in Berlin über die Entwicklung des interreligiösen Dialogs seit 1945..

 

Es gibt wohl nur wenige Menschen in Deutschland, die solange wie Sie im religiösen Trialog aktiv sind. Wie lange liegt Ihre erste jüdisch-christlich-muslimische Begegnung zurück?

Das war in Bendorf am Rhein 1973. Ein evangelischer Pfarrer, Rudi Stamm, hatte eingeladen, Dozenten des Leo Baeck College aus London waren dabei. Ich kann mich nicht mehr genau an die Namen erinnern. Das war auch die Schwäche dieser Veranstaltungen. Es gab keinen Kern, der sich immer wieder getroffen hat. Es waren immer andere. Bei jedem Treffen fing man von vorne an, musste sich vergewissern, wo man steht und wo die anderen. Das war die Schwäche im tri-religiösen Dialog – bis zum House of One.

 

Wer vertrat damals die Musliminnen und Muslime?

Das waren deutsche Muslime, ein Herr Herzog, wenn ich mich recht erinnere. Damals sah die muslimische Welt in Deutschland noch anders aus und war sehr klein. Ich wusste immerhin ein wenig über den Islam aus meinem Studium.

 

Sie studierten doch Judaistik …

Ja, aber es gab an der Freien Universität in Berlin ein gemeinsames Grundstudium von Islamwissenschaften, Judaistik, Religionswissenschaften und Evangelischer Theologie. In einem Kurs ging es um die Grundzüge des Koran. Das war mir einigermaßen vertraut.

 

Wieso vertraut, hatten Sie sich schon früher mit dem Koran beschäftigt?

In der Schule. Die hieß Friedrich Rückert Oberschule und Rückert war der Übersetzer des Korans. Jedes Jahr einmal mussten wir Schüler etwas über Rückert lernen und mindestens alle zwei Jahre wurde seine Koranübersetzung thematisiert. Das war allerdings ohne Beteiligung von Muslimen. Es waren keine an meiner Schule, damals in den 1960er Jahren.

 

Sie sprachen von einer Schwäche im multi-religiösen Dialog, die für Sie erst das House of One behoben hat. Was hat sich verändert?

Im House of One gibt es einen personellen Kern. Über die Jahre, ich bin seit 2015 dabei, konnte Freundschaft und Vertrauen zueinander wachsen. Im christlich-jüdischen Dialog war das schon anders, da gab es längst mehr Stetigkeit durch die Gesellschaften, die Arbeitskreise. Mit muslimischen Gläubigen gab es das noch nicht. Zumindest kannte ich sie nicht. Im House of One haben wir eine gemeinsame Aufgabenstellung. Die ist momentan im Kern – neben den interreligiösen Begegnungen, Vorträgen oder Schulbesuchen – eine Moschee, eine Kirche, eine Synagoge sowie einen gemeinschaftlich genutzten Raum zu schaffen.

 

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Was ist daran das Besondere?

Zum einen das Bauliche. Das nicht wie eine Turnhalle, die klar definierte Voraussetzungen hat. Die drei Sakralbauten sind keine Standardbauten. Im Dialog mit den Architekten, mit den Technikern ergeben sich Fragen, die wir immer gemeinsam beantwortet haben – auch wenn klar ist, dass Imam Kadir Sanci das erste Wort bei der Moschee hat oder Pfarrer Gregor Hohberg für die Kirche. Dieser Austausch, und das ist das Besondere, verändert einen und er verändert den Blick auf die anderen, wenn man über so lange Zeit eine Aufgabe miteinander erfolgreich verfolgt, überlegt, wie gemeinsame Gebete aussehen können und immer wieder auch andere Religionen dazu einlädt. Da hat sich nicht nur eine gewisse Professionalität entwickelt, da ist Vertrauen und Freundschaft gewachsen. Das ist etwas völlig anderes, als wenn man sich ein Wochenende trifft und wieder auseinandergeht.

 

Was bedeutet ihnen das House of One?

Es ist in Stein gebauter Tridialog. Im House of One loten wir aus, wo es Parallelen gibt, wo Dissenz, wo sind Dinge, die anders sind und gleichzeitig nebeneinander stehen können. Entscheidend ist, dass man den Trialog für die nächste Generation voranbringt, damit man nicht immer wieder bei Adam und Eva anfangen muss. Das Erlangte weiterzugeben, ist eine extrem wichtige Aufgabe. Vor allem vor dem Hintergrund, dass es eine gewisse religiöse und politische Distanz zwischen den Religionen gibt. Es geht darum, einen breiten gesellschaftlichen Konsens zu erreichen, indem wir Menschen zusammenbringen und so helfen, Vorurteile zu überwinden.

 

Sie haben einmal gesagt, dass diese Auseinandersetzung miteinander eine Aufgabe ohne Ende ist, da immer wieder neue Menschen hinzukommen.

Aber es gibt Fortschritte. Wir gehen heute so selbstverständlich davon aus, dass es einen christlich-jüdischen Dialog gibt. Der kam aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg zustande. Vorher gab es nur Kratzen, Spucken, Beißen und Treten. Wir haben einen Jahrtausendschritt vorangemacht. In den letzten zwei, drei Jahrzehnten entwickelt sich dieses Gespräch auch mit den Muslimen. Der Punkt ist, wir gehen voran. Der christlich-jüdische Dialog zeigt, wie man bei gegenseitigem Respekt und indem man akzeptiert, dass der andere anders ist, vorankommt.

 

Wenn man die vergangenen zwei Jahre mit den Anschlägen in Halle und Hanau oder Judensternen und KZ-Sträflingsanzüge auf Anti-Corona-Demonstrationen sieht, ensteht nicht der Eindruck, dass die Gesellschaft vorankommt.

Ich beobachte das missbilligend und mit Sorge. Man muss sich aber damit auseinandersetzen. Und das tut unsere Gesellschaft. Vergleiche wie die mit den Judensternen oder KZ-Anzügen sind falsch, aber die Reaktion darauf ist doch klasse.

 

Gleichzeitig nimmt Antisemitismus laut Statistiken zu.

Seitdem es die Bundesrepublik gibt – für die DDR kenne ich keine Zahlen – sind zwischen 20 und 25 Prozent der Bevölkerung potentiell antisemitisch eingestellt. Da hat sich nicht viel verändert. 1970 gab es zum Beispiel den Brandanschlag auf ein Jüdisches Altersheim in München bei dem sieben Menschen starben oder 1969 der - glücklicherweise missglückte - Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindezentrum in der Berliner Fasanenstraße am Jahrestag des Novemberpogroms durch die linksextremen Tupamaros.

 

Und was hat sich dann verändert?

Die Leute verstecken sich nicht mehr. Früher waren Schmähbriefe anonym. Jetzt sind Name und Absender drauf. Hinzu kommt, dass der Hass durch das Internet vielfach verbreitet wird und sichtbarer ist. Das zeigt sich nicht nur im Antisemitismus, sondern auch in Attacken gegen muslimische Menschen, Moscheen, Friedhöfe. Wir müssen alle sehr wachsam sein. Gleichzeitig gibt es heute Stellen, an die sich Betroffene wenden können. Es gibt Antisemitismus-Beauftragte nicht nur im Bund, sondern auch in den Bundesländern.

 

Bekommen Sie diesen Hass zu spüren?

Ich lebe in einem Umfeld, in dem die Menschen andere nicht spüren lassen, wer Jude und wer Nicht-Jude ist. Außerdem tue ich Leuten, die Juden bedrohen, nicht den Gefallen, wegen ihrer Drohungen meine Lebensgewohnheiten zu ändern.

 

Inwieweit hat Ihr Elternhaus, die Geschichte Ihrer Eltern, Estrongo und Lilli Nachama, beide Holocaust-Überlebende, sie auf Ihrem Weg beeinflusst?

Mein Elternhaus war vom christlich-jüdischen Dialog gekennzeichnet. Estrongo war mit dem Propst Grüber von der evangelischen Gemeinde St. Marien befreundet, der wie mein Vater in Sachsenhausen eingesessen hatte, aber nicht gemeinsam. Sie haben sich nach dem Krieg im Verein der ehemaligen Sachsenhausener kennengelernt. Wenn Grüber mehrmals im Jahr bei uns war, war das natürlich auch eine Form des interreligiösen Dialogs. Das hat mich als Jugendlicher geprägt.

 

Wie kann man sich das vorstellen?

Grüber fragte mich immer, welche Tora-Abschnitte mein Vater mit mir gelesen hatte. Dann hat er mir die christliche Sicht auf den gleichen Sachverhalt dargelegt. Und? Die Welt ist nicht eingestürzt! Der gleiche Text mit zwei unterschiedlichen Zugängen. Das hat mich geprägt. Wir hier über die 1960er-Jahre, 15 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Estrongo war als Kantor zu Anlässen wie dem 9. November oder am Israelsonntag in Kirchen eingeladen und hat mit dem Kirchenchor hebräische Gebetsgesänge aufgeführt. Das war interessant, wie die Menschen sich angenähert haben. Aber bevor mein Vater in eine Kirche ging, hat er immer Grüber angerufen und gefragt, ob der Pfarrer dort DCler oder BKler war, also ober zu den hitlertreuen Deutschen Christen oder zu der widerständigen Bekennenden Kirche gehört hatte.

 

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Sie werden an diesem 27. November 70 Jahre. Was wünschen Sie sich?

Ich wünsche mir, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Gewalt kein Thema mehr ist. Ein frommer Wunsch, ich weiß.

 

Und was wünschen Sie sich im Zusammenhang mit Ihrem Engagement im House of One?

Wer mir eine Freude machen will, der kann sich an der Spendenaktion für das Schreiben einer Tora-Rolle für die Synagoge im House of One beteiligen (Details weiter unten). Jede Tora wird von Hand geschrieben. Das ist ein teurer Prozess, der Jahre dauert und hoffentlich zur Eröffnung des House of One fertig sein wird.

 

Die Fragen stellte Kerstin Krupp.

 

 

Für die Spendenaktion "Eine Tora für das House of One" hat die Gemeinde von Rabbiner Nachama, Sukkat Schalom in Berlin-Charlottenburg, ein Spendensonderkonto eingerichtet: DE88 3706 0193 6004 3610 06

Spendenbescheinigungen erhalten Sie über die Gemeinde Sukkat Schalom.

 

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