Montag, 10. Juli 2023

Interreligiöse Begegnungen: Das Simchat Gallen Festival

Kabbalat Schabbat in der St. Gallener Synagoge
Auch Gespräche können eine Gotteserfahrung ermöglichen im Sinne des jüdischen Philosophen Martin Buber.
Gemeinsamer Dank

Tovia Ben Chorin sel., Gründungsrabbiner des House of One, hätte seine Freude gehabt. Der Verein Simchat Gallen hat in Kooperation mit dem House of One und anderen mit dem Simchat Gallen Festival in seinem Geiste und in interreligiöser Freundschaft eingeladen. Auf diesem dreitägigen Fest im schweizerischen St.Gallen (30.06 bis 02.07.23) haben rund sechzig Menschen gemeinsam Kabbalat Schabbat, Hawdala gefeiert und in liturgischer Gastfreundschaft in der Halden-Kirche in St.Gallen interreligiös gebetet.

Gerrit Popkes, Mitglied des Stiftungsrats des House of One, hat die Erlebnisse zusammengefasst:

 

Simchat Gallen | Eindrücke

"Wir sind als Delegation des House of One drei Tage in St. Gallen zu einem interreligiösem Fest zu Ehren von Adina und Tovia Ben-Chorin – dem im März 2022 verstorbenen Gründungsrabbiners des House of One – an unterschiedlichsten Orten. Das Festival Simchat Gallen wird von der Jüdischen Gemeinde vor Ort in Kooperation mit dem House of One organisiert.

Simchat Gallen werden für uns 45 Stunden Sinnesrausch. Wir hören, reden, feiern, essen, trinken, tanzen, spazieren und lernen gemeinsam das Gemeinsame und das Trennende und setzen uns mit dem Raum dazwischen – der Leere – auseinander. Ist dies vielleicht der vierte Raum des House of One?

Wir erfahren mit der im Jahr 1881 im maurischen Stil erbauten Synagoge in der Mitte St. Gallens die Bedeutung von steinernen Symbolen. Die damaligen Bauherren gestalteten das kunstvoll verzierte Gebäude als einen Sehnsuchtsort ihrer religiösen Überzeugungen und Traditionen – so ganz anders als alle anderen Gebäude drumherum. Wird nicht auch das House of One in der Mitte Berlins in seiner Einzigartigkeit gleichzeitig ein Fremdkörper werden – um Gedanken anzustoßen, neue Wege zu gehen?

Doch wir sind ja im Geiste von Tovia Ben-Chorin zusammengekommen, um einander kennenzulernen und voneinander zu lernen. Bei vielem, an dem wir gemeinschaftlich teilhaben, erahnen, erfahren oder erleben wir die Bedeutung. Nicht alles erklärt sich sofort, nicht alles ist verständlich, über vieles gibt es getrennte Meinungen. Aber genau dafür ist ja Raum – und natürlich immer zeitlich zu wenig. Aber ist es ist ja nicht ein abgeschlossener Prozess, auf die wir uns begeben und eingelassen haben, sondern eine womöglich unendliche Reise.

Wir tauchen hinein in ein Familienfest der Erinnerung. Es ist ein kontinuierliches Sprachbad aus Deutsch, Englisch, Hebräisch und Schwyzerdütsch – doch Babel ist fern. Es ist mitunter ein verwirrendes Durcheinander von Geräuschen und zugleich eine inspirierende Vielfalt an Gedanken und Gesten.

Wir als Simchat Gallen/House of One-Team wirken im Geiste der House of One-Idee: Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kultur und Religion oder Weltanschauung werden zusammengerufen, eingeladen zum Austausch, zum gegenseitigen Kennenlernen, zum Beten und Singen. Partner aus dem interreligiösen Netzwerk werden über verschiedene Veranstaltungen in das Festival eingebunden. Die Jüdische Gemeinde St. Gallen öffnet sich in Ben-Chorin’scher Tradition und tritt in Kontakt mit Menschen aus anderen Religionen. Christ*innen, Buddhist*innen, Sikh lernen die Jüdische Gemeinde kennen oder vertiefen den Kontakt.

Bei einem von uns fünf House of Oneler*innen gestalteten Workshop fragen wir nach Herangehensweisen, nach „Rezepten“, wie Frieden unter Menschen – auch fern von religiöser Verortung – gelingen kann. Diese Prinzipien sollen zum Bau des House of One beitragen – auch als echte beschriftete Ziegelsteine. Wir erleben, dass zufällig ausgewählte Teilnehmer*innen sich dieser (im Angesicht der kurzen Zeit) überfordernden Aufgabe stellen wollen. Und es entstehen „steinreife“ Essenzen wie eine „Bereitschaft zur Betroffenheit“ und ein „Gemeint sein“.

Zum Abschluss des Festivals gestalten die Ökumenische Gemeinde Halden und das House of One einen festlich-berührenden Gottesdienst in liturgischer Gastfreundschaft – und viele Teilnehmer*innen des Festivals sind dabei.

Es bedarf Menschen, die Offenheit und das Interesse an den Anderen und an dem Anderen leben. Diese Menschen sind besondere Motoren friedensstiftender Verständigungsformen. Tovia Ben-Chorin war ein solcher Mensch, war ein Meister des Dialogs.

In diesen Tagen – bewusst doppeldeutig – sind es Yehoyada Amir, Golan Ben-Chorin, Kübra Dalkilic, Renate Franke, Ann-Katrin Gässlein, Alexander Grodensky, Gilgi Guggenheim, Gregor Hohberg, Dalia Marx, Gerrit Popkes, David Rösch, Malkhaz Songulashvili, Shlomo Tikochinski, Daniela Vorburger und Andrea Weinhold, die jeweils auf eigene Art in diesem Grundverständnis prägend denken, reden und eben auch handeln.

Was nehme ich mit: Das House of One ist niemals nur ein einzelner, festgelegter Ort. Das House of One ist wie eine nomadische Quelle, ein wanderndes, sich wandelndes Zelt, in dem Menschen von Zeit zu Zeit zusammenkommen, voller Neugier aufeinander und aneinander. Und alle gehen dann zurück an einen anderen Lebens- und Wirkungsort. Und es bleibt jetzt auch ein Simchat Gallen-Spirit in ihnen. Und manchmal sehen sie sich unverhofft wieder und knüpfen an das Vorherige an – mit allen Erlebnissen und Erkenntnissen der Zwischenzeit.

Es ist schön, ein Teil dieser wachsenden Familie zu sein."