Über die christlichen Wurzeln des Rassimus
Gastbeitrag von Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter von Baden-Württemberg:
Immer wieder ist zu hören und zu lesen, der Rassismus sei eine biologische Theorie des 19. Jahrhunderts gewesen und Semiten seien eine „Rasse“ aus Juden und Arabern.
Tatsächlich aber etablierte sich der Begriff der „Rasse“ ab dem 15. Jahrhundert als ein Thema der Theologie. Im Gebiet des heutigen Spanien und Portugal eroberten Christen in der „Reconquista“ muslimisch regierte Regionen zurück. Jüdinnen und Muslime hatten zunehmend nur die Wahl, ob sie sich katholisch taufen ließen oder aber flohen.
Tatsächlich gab es freiwillige Taufen und sogar Bischöfe wie Paulus von Burgos (1352 –1435), der zuvor als Rabbiner Schlomo ben Jitzchaq ha-Levi gewirkt hatte. Aber genau das sahen viele bald sogenannte „Altchristen“ als Problem: Ehemalige Muslime und vor allem Juden behielten ja nach der Taufe nicht nur ihre manchmal andere Hautfarbe, sondern auch ihre Bildung. Schnell wurde gegen Gelehrte, Priester, Ärzte der Vorwurf erhoben, sie selbst oder ihre Vorfahren seien ja nur zum Schein zum Christentum übergetreten und eigentlich immer noch verschwörerische Feinde der Rechtgläubigen. Kurz: Es wurde angezweifelt, dass die Taufe bei allen Menschen gleichermaßen zähle.
Anti-semitische Mythen der Blutmagie
Die anti-semitischen Mythen der Blutmagie wurden nun von Adel und Geistlichkeit zur Abgrenzung verwendet: Zugang sollte nur noch erhalten, wer seine „Blutreinheit“– die Limpieza de sangre – nachweisen konnte. Beliebt war eine Legende, nach der Söhne von Bauern und Rittern gemeinsam bei Hirten aufgezogen worden wären, aber schon bei der Auswahl ihrer Spielzeuge die Vorlieben ihres „Blutes“ gezeigt hätten.
Nicht wenige Nachfahren von Bauern verwiesen aber nun ihrerseits darauf, dass sie „reineres“ Blut als die Nachfahren von „Kindern Sems“, also von Juden und Musliminnen, gehabt hätten. Es ergab sich eine bittere Wechselwirkung, die wir leider auch bis heute beobachten können: Wer selbst Opfer von Rassismus wird, kann wiederum versuchen, andere rassistisch abzuwerten.
Der Begriff der „raza“ wurde so abgeleitet aus dem Arabischen raz für „Kopf“ und „Herkunft“, entsprechend übrigens dem Hebräischen Rosch HaSchana, für „Kopf des Jahres“, Neujahr. Nun konnte sich auch eine ärmere Frau über den Arzt in der Stadt erheben – er konnte vielleicht lesen, schreiben und heilen, sie hatte jedoch die hellere Haut und die reinere „raza“.
Und so eskalierte der Rassismus mit der Zurückeroberung der muslimischen Regionen in Spanien zu einer kirchlichen Lehre: Als erste Verwendung des raza-Begriffes in der Theologie gilt heute die Forderung des spanischen Erzbischofs Siliceo von 1547, kirchliche Ämter nur noch an Christen „ohne Rasse [raza] eines Juden, Mauren oder Häretikers“ zu vergeben.
Antijudaismus wird zum rassistischen Antisemitismus
Nun also fiel eine der ältesten Lehren der christlichen Mythologien: Dass durch die Taufe alle Christinnen und Christen vor Gott gleich sein würden. Stattdessen wurde nun behauptet, dass die Herkunft, „das Blut“ und die sichtbare Hautfarbe über die Qualität und das Schicksal der Menschen entscheiden würden. Während dabei alle anderen Gruppen abgewertet wurden, wurden die – häufiger gebildeten – Nachfahren von Jüdinnen und Juden dabei als besonders schlau und verschwörerisch dargestellt – der Antijudaismus wurde zum rassistischen Antisemitismus.
Fast zwei Jahrhunderte nach der Vernichtung aller jüdischen und islamischen Gemeinden auf der Halbinsel erschien 1674 das Verschwörungswerk „Centinela contra Judios“–deutsch: Schildwache gegen die Juden. Francisco de Torrejoncillo, ein spanischer Franziskanermönch, behauptete, dass das Blut der jüdischen „Kinder Sems“ bis in die 21. Generation antichristlich wirke. Schein-christliche, tatsächlich aber jüdische Verschwörer seien als Ärzte unterwegs, als Gelehrte, versuchten sich gar in Adel und Kirche einzuschleichen. Man erkenne sie unter anderem daran, dass sie im christlichen Gottesdienst besonders fromm aufträten.
Das Buch fand eine große Verbreitung. Wer auch nur beschuldigt wurde, eine semitische, also muslimische oder vor allem jüdische „raza“ zu haben, konnte von der Spanischen Inquisition wegen Glaubensabfalls angeklagt werden. Gestanden Beschuldigte schnell, wurden sie meist mit Geldstrafen und Bußkleidung entlassen, füllten damit die Taschen der Ankläger und schienen den Mythos einer weit verbreiteten, teuflischen Verschwörung zu bestätigen. Leugneten sie aber und wurden von Dritten beschuldigt, so konnten sie gefoltert und schließlich ermordet werden. Der Rassismus ließ einen „Antisemitismus ohne Juden“ eskalieren – umso länger die Vertreibungen und Zwangstaufen zurücklagen, umso größer erschien den Antisemiten die Unterwanderung von Gesellschaft, Kirche und Adel!
Das Christentum ist ebenso wenig rassistisch wie das Judentum und der Islam. Aber erst 1834 wurde die Spanische Inquisition nach 356 Jahren Bestehen abgeschafft. Unter den verheerenden Folgen eines im Mittelalter entstandenen Rassismus, dem später ein Franziskanermönch die theoretische Grundlage und Massenverbreitung verschaffte, leiden Millionen Menschen bis heute.
Der Buchdruck, der europa- und dann weltweit eine Wissensexplosion entfachte, wurde auch zum Medium eines erstmals dogmatisierten Rassismus. Heute erleben wir im Internet das gleiche Miteinander von Edlem und Üblem, von Liebe und Hass, von Gottvertrauen und Verschwörungsglauben.
Der Autor Dr. Michael Blume ist Antisemitismusbeauftragter von Baden-Württemberg. In seinem Podcast "Verschwörungsfragen" beschäftigt sich der Theologe mit der Frage, warum sich Verschwörungshass so häufig gegen Juden richtet. In Episode 13 beschäftigt sich Blume, wie hier im Text, auch mit dem Begriff der Rasse.