von Roland Stolte
Als der Regierende Bürgermeister von Berlin und spätere Bundeskanzler Willy Brandt zu
Beginn des Jahres 1961 die Vereinigten Staaten besuchte, kam es nach einem Gespräch mit
Präsident Kennedy im Weißen Haus zu einem Treffen mit den „Americans for Democratic
Action“. Dr. Martin Luther King jr hielt eine Rede – und Willy Brandt nutzte die Begegnung zu
einer Einladung Dr. Kings nach Berlin.
Dreieinhalb Jahre später, im September 1964, folgte King dieser Einladung in die geteilte
Stadt. Am 12. September, einem Sonnabend, landete King auf dem Flughafen Tempelhof
im Westteil der Stadt. Die eineinhalb Tage seines Aufenthaltes in Berlin waren geprägt durch eine
Reihe ‚offizieller’ Anlässe und Ehrungen: Pressekonferenz, Empfang durch den Regierenden
Bürgermeister Willy Brandt und Eintragung in das Goldene Buch der Stadt Berlin, Eröffnung
der Berliner Festwochen mit einer Gedenkrede für den im November 1963 ermordeten
Präsidenten John F. Kennedy, Rede zum „Tag der Kirche“ vor gut 20 000 Westberliner
Christen, Überreichung des Diploms eines Ehrendoktors der Theologischen Hochschule.
„Eingeladen, eigentlich, ist er ja zu [all dem]“ – doch das Besondere geschieht hier nicht.
Vielleicht ist es dieses Wort „eigentlich“, das das offizielle Programm gleichsam einklammert
und den Besuch damit am treffendsten charakterisiert: ‚Eingeladen, eigentlich, war er zu den
Reden und Ehrungen, doch das Wichtige geschah woanders.’
Es ist keine Deutung aus dem Abstand von 45 Jahren, sondern ein Eindruck, den ein
Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dieter Hildebrandt, zwei Tage nach
Kings Abreise in einem Artikel äußerte. Gerade in kirchlichen Kreisen wurde dieser Artikel
als so treffend empfunden, dass man ihn ausdrücklich empfahl und nachdruckte. Ihre
Bestätigung fand diese Sichtweise zudem durch eine Vielzahl von Zeitzeugenbefragungen.
Was aber geschah abseits des offiziellen Programms?
In den Morgenstunden des 13. September war es zu einem Schusswechsel an der Berliner Mauer gekommen: ein
21-jähriger Berliner hatte versucht, nach West-Berlin zu fliehen. Von fünf Kugeln getroffen und schwer verletzt, konnte er gerettet werden, da es einem amerikanischen Sergeanten
gelang, ihn mit einem Seil über die Mauer zu ziehen. Noch am Vormittag suchte Dr. M. L.
King die Berliner Mauer auf, dieses, wie er selbst einige Stunden später sagte, „Symbol für
die Trennungen von Menschen auf dieser Erde“, das sich an diesem Morgen in seiner
grausamen Konsequenz offenbart hatte.
Abseits des offiziellen Programms gestaltete sich dann auch der Sonntagabend: ohne
öffentliche Einladung der Kirche, ohne offizielle Einladung des DDR-Staates, fuhr King in
den Ostteil Berlins, um in der Marienkirche am Alexanderplatz einen Gottesdienst zu feiern -
das einzige Mal überhaupt, dass er sich hinter den „eisernen Vorhang“ begab. Fast wäre
King die Einreise verwehrt worden, da er keinen Pass mit sich führte. Erst, als ihn ein
Grenzsoldat zufällig erkannte, konnte er den sogenannten Checkpoint Charlie passieren.
Die Marienkirche hatte man bereits um 19 Uhr, eine Stunde vor Beginn des Gottesdienstes,
schließen müssen, da sie mit gut 1.500 Besuchern vollkommen überfüllt war. Die vielen vor
der Tür Ausharrenden zogen schließlich – wie in einem Demonstrationszug (so die
Bemerkung einer Zeitzeugin) – in die benachbarte Sophienkirche, wo sie warteten und wo
King später am Abend seine Predigt wiederholte.
Für die Ostberliner Christen, die durch ‚Mund-zu-Mund-Propaganda’ von der Predigt
Kings erfahren hatten, waren diese Stunden ein unvergessliches Ereignis: Für sie war es Trost
und Ermutigung in dürftiger Zeit. Ohne voneinander im Detail zu wissen – King lehnte es
ausdrücklich ab, Ratschläge für die Verhältnisse in Berlin erteilen zu können – geschah doch
nach den Berichten der Zeitzeugen so etwas wie Einverständnis und Einmütigkeit der
Leidgeprüften.
Um die Äußerungen und Empfindungen der damals Beteiligten besser verstehen zu können,
bedarf es eines genaueren Blicks auf die Begleitumstände des Besuchs und auf die Situation
der Kirche in der DDR. Ich werde einige Punkte, ich habe sie ‚Merkwürdigkeiten’ genannt,
anführen:
1. Merkwürdigkeit: Der Einladende durfte den Gast nicht begrüßen.
Aus den Akten wissen wir, dass es der Propst der Marienkirche, Heinrich Grüber, war, der die
Anregung und Einladung zu der Predigt Dr. Kings in Ost-Berlin ausgesprochen hatte. Grüber
stand seit 1963 in brieflichem Kontakt zu King und nahm detailliert Anteil an den
Aktivitäten der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Aus Grübers erstem Brief an King
sei eine Passage zitiert, da sich Grüber hier auch selbst vorstellt:
„Aus der Verbundenheit desselben Glaubens und auch derselben Hoffnung schreibe ich, weil
ich weiß, dass Ihre Erfahrungen dieselben sind wie die unsrigen. Ich darf nur kurz etwas zu
meiner Person sagen. Als Hitler die sogenannten Rassengesetze erließ, habe ich mich mit
vielen Pfarrern der Bekennenden Kirche dagegen gewandt und ich gründete ein Büro, das
meinen Namen trug, um all den unterdrückten und verfolgten Menschen zu helfen. Eichmann
brachte mich deswegen 1940 ins Konzentrationslager, zuerst nach Sachsenhausen und dann
nach Dachau. Ich war dann der einzige deutsche und christliche Zeuge in dem Prozeß gegen
Eichmann. So wurde ich auch in Amerika bekannt und erhielt viele Einladungen. Ich war
gerade in den Staaten, als die Schwierigkeiten in dem Missisippigebiet begannen. Ich
predigte an dem unruhigen Sonntag in Chicago in einer Kirche vor Negerbrüdern und –
schwestern über das Wort von Jesus ‚Auf dass sie alle eins seien’. Ich habe mich in der
Hitlerzeit oft geschämt, ein Deutscher zu sein, damals und heute schäme ich mich, ein Weißer
zu sein. … Als ich im Konzentrationslager Dachau einen schweren Herzanfall hatte und schon
zu den Leichen gezählt war, habe ich später nach meiner Genesung das Wort gelesen, das die
Losung dieses Tages war. Es war das Wort von Ephraim, 1. Mose 41, 52: „Gott hat mich
wachsen lassen im Landes meines Elendes“. Wir können und dürfen wachsen, auch im Lande
des Elendes. In dieser Gewißheit wissen sich viele Christen in Europa, und gerade die, die in
Deutschland gegen Hitlers Rassenwahn gekämpft haben, mit Ihnen fürbittend verbunden.“
Wiederholt sprach Grüber in folgenden Briefen eine Einladung an Dr. King aus, nach Berlin zu
kommen; und Grüber war es, der in die Kirchenleitung den Vorschlag des Gottesdienstes in
‚seiner’ Marienkirche einbrachte.
Aber: Heinrich Grüber war nur noch nominell Propst der Marienkirche. Aufgrund seiner
staatskritischen Haltung war ihm seit Ende August 1961 – und mit ihm den Predigern an der
Marienkirche Bischof Dibelius und der spätere Bischof Kurt Scharf – die Einreise nach Ost-
Berlin verwehrt, selbst seinen Sohn in Ost-Berlin zu besuchen untersagte man ihm.
Grüber konnte also die Einladung Kings in seine Heimatkirche vermitteln, teilnehmen
durfte er nicht.
2. Merkwürdigkeit: Obwohl M. L. King in der Marienkirche dieselbe Predigt wie zum
Westberliner „Tag der Kirche“ hielt, war der Eindruck auf die Zuhörer ganz verschieden. In
der Marienkirche bekam die Predigt von der Befreiung der Unterdrückten, von dem
Glauben, der ‚aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung schlägt’ „eine andere
Färbung, eine größere Dringlichkeit, die die Zuschauer bannt[e]“ – so beschrieb es wiederum
Dieter Hildebrandt von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die größere Dringlichkeit
erwuchs aus der Notlage der Gemeinde, denn das unter dem ersten Punkt Gesagte muss
noch verschärft werden: nicht nur Propst Grüber durfte King nicht begrüßen, es war
überhaupt kein Pfarrer der Mariengemeinde vor Ort, der Gastgeber hätte sein können: der
eine Pfarrer, Martin Helmer, 1963 geflohen, der andere, Werner Arnold, 1963 verhaftet und
eingesperrt. Der leitende Geistliche für ganz Ost-Berlin, Generalsuperintendent Gerhard
Schmitt, musste deshalb einspringen und den prominenten Gast willkommen heißen.
Schmitt selbst war erst seit kurzem berufen, nachdem sein Vorgänger, auch 1963, nach einer
heftigen Auseinandersetzung mit staatlichen DDR-Stellen, die ein Verbot kirchlicher
Jugendfreizeiten durchsetzen wollten, an einem Herzinfarkt verstorben war.
Pfarrer Werner Arnold, der eigentliche Marienpfarrer, nach eigenen Worten kein politischer
Dissident, jedoch ein furchtloser Kritiker des Mauerbaus, hatte – übermannt von der Not
hilfesuchender Menschen – mit Unterstützung des schwedischen und des amerikanischen
Gesandtschaftspfarrers, die im Besitz von Diplomatenpässen waren und deshalb die Grenze
unkontrolliert passieren durften, ca. 30 Personen in den Kofferräumen der
Diplomatenfahrzeuge zur Flucht nach Westberlin verholfen. Daneben fungierte die
Marienkirche als ‚Umschlagplatz’ für aus Westberlin geschmuggelte Waren, Medikamente
für die Berliner Charité zum Beispiel oder Geld für die Kirchengemeinden in der DDR.
Verraten durch eine Sekretärin in der amerikanischen Botschaft, wurde Werner Arnold im
Herbst 1963 verhaftet, nach zähen Verhandlungen im Juli 1964 freigekauft und unter
Maßgabe beiderseitiger Verschwiegenheit in die Bundesrepublik Deutschland gebracht.
Im September 1964 war dementsprechend die Unsicherheit und Sorge in der
Mariengemeinde noch groß – und dabei blieb es: Selbst ein Jahr später wurde dem
gewählten Nachfolger eine Zuzugsgenehmigung aus dem Umland nach Ost-Berlin
verweigert, sodass die Situation in der Marienkirche noch über Jahre hinweg prekär war.
3. Merkwürdigkeit: Von offizieller staatlicher Seite der DDR fand der Besuch von Martin Luther
King so gut wie keinerlei Beachtung.
Es ist auffällig, dass von offizieller staatlicher Seite eine Beteiligung an dem Besuch von
King an keiner Stelle greifbar wird. In der DDR-Presse finden sich, einige Tage nach dem
Besuchsende, lediglich einige kurze Meldungen. Das ist um so auffälliger, da, in
merkwürdiger zeitlicher Parallelität zu der Kontaktaufnahme Heinrich Grübers, 1963 auch
ein Briefwechsel zwischen dem Vorsitzenden der DDR-CDU, Gerald Götting und
King einsetzte, mit dem Götting seiner Sympathie Ausdruck verlieh: „Sie und Ihre Landsleute
dieser Verbundenheit gerade auch seitens der Bevölkerung meines Landes, der Deutschen
Demokratischen Republik, zu versichern, ist mir in diesen Vorweihnachtstagen [1963] ein
besonderes Anliegen. In den letzten Wochen wandte sich u.a. eine alte Rentnerin an mich,
die um Ihre Anschrift bat. Es war ihr Anliegen, Kindern der dem Rassenterror ausgesetzten
Bevölkerung durch selbstgefertigte Puppen und anderes Spielzeug eine Freude zu bereiten
und dadurch ihre Verbundenheit zu bekunden. Mag Ihnen, verehrter Herr Dr. King, dieses
kleine Beispiel die Solidarität unserer Menschen zeigen.“
So unabhängig voneinander die Schreiben Grübers und Göttings an Dr. King entstanden, so
unabhängig vollzog sich im Grunde auch die Rezeption des Wirkens und der Lehre
M. L. Kings – und im Falle des Berlin-Besuchs Kings scheint es so gewesen zu sein, dass die
staatlichen Institutionen der DDR, insbesondere die CDU, von der Predigt in der
Marienkirche schlichtweg keine Kenntnis besaßen und die Gottesdienste in der Marien- und
Sophienkirche und das anschließende Treffen Kings mit Vertretern der Kirchenleitung der
Ev. Kirchen Berlin-Brandenburg im Hospiz in der Nähe des Bahnhofs Friedrichstraße zu
einem Signal wurde, dass die Kirche in der DDR der vollständigen staatlichen Bevormundung
zuvorkommen konnte - im Interesse einer Verkündigung des freien Wortes. Dass die
kirchliche Rezeption des Kingschen Gedankens eines gewaltlosen Widerstands gegen
jedwedes Unrecht mit beitrug zum friedlichen Charakter des Umbruchs 1989, ist zu Recht
behauptet worden, bedarf aber noch einer eingehenderen Untersuchung.
Dass sich die Vorzeichen aber auch umkehren konnten, zeigte sich sieben Jahre später, als,
ohne Beteiligung der Kirchengemeinde, Ralph Abernathy auf Einladung des Friedensrates
der DDR Ost-Berlin besuchte, im Rathaus empfangen wurde, sich ins Goldene Buch der Stadt
(Ost-)Berlin eintrug, die Humboldt-Universität aufsuchte – und auf seinen Wunsch hin einen
Gottesdienst in der Marienkirche hielt. Der damalige Pfarrer der Marienkirche erzählte mir,
nie wieder hätte er eine solche Masse an blauen Hemden der staatlichen DDRJugendorganisation
FDJ in der Kirche gesehen. Aber auch hier gilt, dass eine detaillierte
Sichtung des staatlichen Umgangs mit dem Erbe M. L. Kings in der Bandbreite von echter
Anteilnahme und ideologischer Indienstnahme noch aussteht.
Aber kommen wir zurück zu dem Besuch Kings 1964 in der Marienkirche. Ich schließe mit
dem letzten Abschnitt des bereits mehrfach zitierten Artikels aus der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung. Es ist wie ein Fazit in dem Miteinander von Erlebtem und Berliner
Wirklichkeit:
„Es war der Wunsch [bei den Besuchern] spürbar (und diese Spürbarkeit ist
keine feuilletonistische Erfindung), einem Mann zu begegnen, der Revolution und
Menschlichkeit verbindet, einem Führer, der auf Gewalt wie auf Ideologie verzichtet, einem
Menschen von legendärem Ruf. Einem Amerikaner, der es sich erlauben kann, seine
Predigtmit einem zweifachen Hallelujah zu beenden, ohne sich dem Verdacht des
Überschwenglichen, gar des Lächerlichen auszusetzen. Dieses Hallelujah in seiner trockenen
Fröhlichkeit, in seiner hochgestimmten Heiterkeit klang noch in unseren Ohren, als wir beim
Kontrollpunkt Heinrich-Heine-Straße auf eine Senkgrube dirigiert wurden, damit das
Fahrzeug genau geprüft werden könne.“