Ein Gespräch mit Rabbiner, Pfarrer und Imam des House of One
Die Architektur des House of One basiert auf einem neuen Konzept. Wie sieht es mit der Theologie des House of One aus: Ist es ein Haus der drei Theologien oder entwickelt sich eine einzige, gemeinsame?
PFARRER GREGOR HOHBERG Die Theologie kann man in Analogie zum Bauwerk betrachten, in dem wir etwas Neues versuchen: Wir bringen drei verschiedene Gebetsräume unter ein Dach – Synagoge, Kirche und Moschee. Theologisch ist der Weg ähnlich: Wir kommen mit unserer je eigenen Theologie in das Haus. Wir können vorweg nicht sagen, was entsteht und ob es vielleicht etwas Neues sein wird. Wichtig ist, dass wir mit einer offenen und aufgeschlossenen Theologie herangehen, eine die die Begegnung und das Kennenlernen der anderen Religionen ermöglicht und in die man die anderen ins theologische Nachdenken mit hineinnehmen kann.
IMAM KADIR SANCI Was heißt Theologie eigentlich? Die Theologie beschreibt den Glauben, die Existenz und Wahrnehmung Gottes und wie sich das Verhältnis zu ihm zeigt. Wir haben uns verpflichtet, religiös unvermischt miteinander umzugehen. So steht es auch in unserer Charta. Gleichzeitig haben wir eine Offenheit für Theologien im House of One. Wir fixieren uns nicht auf eine neue Theologie, die alle umfassen und für alle gelten soll.
Theologien machen sich auch an Dogmen, klaren Gesetzen fest. Wie weit kann die Offenheit im House of One also gehen?
RABBINER ANDREAS NACHAMA Jeder hat seine eigene Welt. Das ist in der Architektur schön sichtbar: Jeder findet in seiner eigenen Tradition einen Weg zu Gott. Gleichzeitig gibt es mit dem verbindenden Mittelraum, aber auch mit dem Fundament und der Geschichte, auf der das House of One errichtet wird, verbindende Linien. Das schlägt sich meines Erachtens nicht in der Theologie, sondern in der Praxis nieder. Ob sich eine eigene Theologie entwickelt, weiß ich nicht. Es wird sich aber eine eigene Praxis entwickeln, aus der heraus wir sehen werden, was wir miteinander tun können. Wir können schon jetzt gemeinsam beten, nebeneinander, jeder in seiner Tradition, und sind gleichzeitig nicht nur räumlich, sondern auch inhaltlich beieinander. Am Ende ist das vielleicht kein Neuland, das wir betreten, aber dadurch dass wir dieses Miteinander kontinuierlich betreiben und diesen gemeinsamen Raum haben, passiert etwas. Was? Das kann man nicht alles voraussehen. Das bleibt spannend.
HOHBERG Es gibt zwar Dogmen, Dinge, die überliefert sind, mit denen wir uns auseinandersetzen. Es gibt aber zugleich auch immer die bleibende Offenheit der Fragen, die wir nicht beantworten können, weil wir Gott nie ganz fassen können. Das führt zu immer neuem Nachdenken und kann zu neuen theologischen Aussagen führen. Die Aufgabe, die wir im House of One haben, die aber auch die Theologie insgesamt hat, ist es die alten dogmatischen Themen nun im Horizont der Vielfalt der Religionen zu betrachten. Im 20. Jahrhundert waren Säkularisierung und Atheismus der Horizont der Theologie.
Und heute?
HOHBERG Jetzt ist der Horizont aller Fragen, die wir theologisch diskutieren, die Vielfalt der Religionen und der Blick auf unsere bedrohte Schöpfung und die Gesamtheit der einen Erde, für die wir insgesamt viel stärker die Verantwortung spüren. Was bedeuten etwa für uns Christen Trinität oder Christologie, wenn man diese Themen in das Gespräch mit dem Islam und dem Judentum bringt. Was bedeutet Klimaschutz oder die Verantwortung für die Schöpfung, wenn wir im Kreise der vielen Religionen uns dazu verhalten?
SANCI Es kann Theologien im House of One geben, aber nicht die EINE Theologie. Sonst laufen wir Gefahr, dass Menschen, die großen Wert auf Tradition legen – und das ist die Mehrheit der Muslime, Christen oder Juden – sich nicht bei uns beheimatet fühlen. Wir müssen die Tradition mit ins House of One tragen.
Das ist ein Spagat zwischen Tradition und Offenheit. Hat sich durch die täglichen Begegnungen die Offenheit in ihrer religiösen Praxis etwas verändert?
NACHAMA Ich weiß nicht, ob sich meine religiöse Praxis verändert hat, aber ich habe mich verändert. In diesem Tridialog, in diesen Gesprächen, habe ich Islam und Christentum viel näher kennengelernt. In der jüdischen Betrachtungsweise sowohl des Christentums als auch des Islams hat sich in den Jahrzehnten nach der Schoah und dem Wiederanfang jüdischen Lebens in Europa und den USA der Blick geweitet. Allen wurde klar, dass wir in einer Welt und miteinander leben. Das ist ein gewaltiger Schritt, wenn man das mit der Situation vor hundert Jahren vergleicht. Das ist vielleicht der wichtigste Aspekt: das Zusammenwirken. Denn die Erfahrung des 20. Jahrhunderts ist doch, dass wenn einer sich über die anderen erhebt, am Ende nur Trümmer bleiben. Das versuchen wir im House of One anders zu machen. Vielleicht wird die Gesellschaft irgendwann sagen: Die drei Religionen sind ein Anker des gesellschaftlichen Friedens.
SANCI Auch meine Gedankenwelt hat das House of One neugestaltet. Es gibt herausfordernde Stellen im Koran. So heißt es zum Beispiel, dass man nicht mit Nicht-Muslimen befreundet sein soll. Warum sollte ich nicht mit einem Juden oder Christen befreundet sein? Die Zusammenarbeit im House of One hat mich auch in diesem Punkt zum Nachdenken angeregt und in der Tradition Gründe finden lassen, die nicht gegen, sondern für eine Freundschaft sprechen. Gleichzeitig habe ich mehr Sicherheit in meiner eigenen Tradition gefunden.
Das sind sehr persönliche Entwicklungen. Wie nehmen Sie die vielen Menschen in ihren jeweiligen Religionen mit?
NACHAMA Wir leben ja nicht in einem Getto oder verschiedenen Wohnquartieren, wir haben vielleicht säkulare, muslimische oder andere Nachbarn. Wir sind alle auf der Reise, egal ob wir das House of One schon von innen kennen oder ob man nur in dieser bunten Stadt Berlin lebt.
Die Begegnungen im Alltag bleiben oft an der Oberfläche. Wie ist das im House of One?
HOHBERG Im House of One ist man in besonderer Weise mit dem konfrontiert, was in unserer Welt Alltag ist, was wir aber gut verdrängen können. Wir können über das Verhältnis von Eigenem und Fremdem nachdenken. Wir drei müssen das besonders, weil wir zusammen ein Haus bauen. Was heißt das für meinen Glauben, wenn es da einen anderen Glauben gibt, der genauso eine Bedeutung für sich beansprucht. Es wäre vermessen, wenn wir etwas Neues erfinden wollten. Unsere Traditionen sind voll von Schätzen, Erzählungen und Geschichten. Unsere Aufgabe besteht darin, eine reale Gemeinschaft in diesem Haus von Unterschiedlichen zu bilden. Dafür ist es wichtig, dass jeder in seiner Tradition nach Mustern und Werten und Lehren fahndet, die uns helfen, auf den anderen zuzugehen, den anderen Glauben ernst zu nehmen. So werden für mich zwei Eckpunkte einer Theologie im House of One sichtbar: Identität und Offenheit.
Wie begründen Sie für sich als Christ diesen Weg?
HOHBERG Für mich als Christ finde ich die Motivation für dieses Denken in der Person Jesu. Er hat von seiner Geburt bis zu seinem Tod als Jude gelebt und sich zugleich immer wieder über die Grenze seiner Religion hinaus geöffnet, um andere hineinzunehmen. Das wird besonders in seiner Mahlpraxis sichtbar, die im Abendmahl gipfelte. Die Begegnung mit euch und mit unseren drei Gemeinden hat mich in diesem Punkt eine neue Position finden lassen. Das Abendmahl hatte für mich immer eine große einladende Geste. Mit den Erfahrungen des House of One ist das Abendmahl aber viel mehr geworden. Es verbürgt die Identität der Christenheit und gewährt zugleich eine einladende Offenheit. Wir danken Gott in unserer Tradition und verteilen dann, was er uns schenkt, öffnen das Mahl für andere. Das ist die eucharistische, inkludierende Grundgeste des Christentums.
Mit dieser Öffnung des Abendmahls stoßen sie in ihrer eigenen Kirche an Grenzen.
HOHBERG Ja, das ist sensibel. Das Abendmahl steht im Zentrum des Christseins, zumindest von evangelischer und katholischer Seite. Aber es gibt eine große Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen, dass die Welt sich verändert und nicht selten Menschen unterschiedlicher Konfessionen, aber auch anderer Religionen oder Agnostiker am Sonntagmorgen in der Kirche zusammenkommen und die Einladung an alles Volk hören und annehmen wollen. Das House of One fordert das Gespräch und das Weiterdenken über diese Entwicklung ein.
Wie sieht es im Islam oder im Judentum aus: Welche Rolle kann das House of One als Vermittler zwischen Tradition und Gegenwart spielen?
SANCI Man muss versuchen den Spagat zwischen Identität und Offenheit zu erhalten. Das ist die pädagogische Verantwortung. Gleichzeitig möchte man den Zeitgeist ergreifen und die Menschen dorthin bewegen. Das ist die gesellschaftliche oder die theologische Verantwortung. Zu oft führen die Imame oder verantwortlichen Theologen die Menschen in ein Dilemma. Sie leben im Heute, haben die aktuelle Realität vor Augen. Wollen sie ihre Religion ausleben, werden sie in die Geschichte verbannt. Diese Schizophrenie ist ungeheuer anstrengend. Die Idee der Offenheit richtet sich nicht nur an die Freundinnen und Freunde anderen Glaubens, sondern auch an die Menschen der eigenen Religion. Man soll nach vorne schauen, die Realitäten der Zeit erkennen, aber dem Kern der Religion treu bleiben.
NACHAMA Die großen Klassiker wie Maimonides machen nur Sinn vor dem Hintergrund, dass es in ihrer Zeit notwendig war diese Texte zu schreiben, die alten in neue Bilder zu gießen. Das wird auch heute so sein. Wir werden erst in 50 oder 100 Jahren wissen, wer das in meiner oder eurer Tradition neu geschrieben und definiert hat. Jüdische Glaubensbilder verändern sich ständig, auch die sogenannten Orthodoxien. Natürlich gibt es auch einiges, das unverändert geblieben ist. Am Ende aber ist alles in Bewegung.
SANCI Die Zeit ist der beste Exeget. Wie kann man säkulare Menschen in das theologische Nachdenken einbinden?
NACHAMA Ich weiß nicht, ob die säkulare Welt tatsächlich so säkular ist. Im sogenannten real existierenden Sozialismus etwa gab es Jugendweihen oder die »Zehn Gebote für den neuen sozialistischen Menschen«, die Religion nachgebildet haben. Viele aus der säkularen Welt, Menschen mit jüdischem aber auch anderem Background, suchen zu bestimmten Feiertagen oder an bestimmten Punkten ihres Lebens wie Hochzeit oder Geburt eines Kindes, die Synagoge, Kirche oder Moschee auf. In Gesprächen mit säkularen Menschen kommt man oft an Punkte, wo man feststellt, dass wir doch ähnliche Werte teilen.
HOHBERG Da kann ich gut anschließen. Wir sind zwar von einer mehrheitlich säkularen Gesellschaft in Berlin umgeben. Das ist aber kein monolithischer Block. Da gibt es die Agnostiker und Atheisten, mit denen uns wahnsinnig viel verbindet, weil die sich mit Religion auseinandersetzen und versuchen, eine eigene Weltdeutung zu finden. Wir engagieren uns aber auch gemeinsam für Frieden, Gerechtigkeit oder Klimaschutz. Religion ist in die Gesellschaft hinein diffundiert. Nicht mehr so stark in den traditionellen Institutionen, großen Kirchen und Gemeinden – im Islam und Judentum wird das ähnlich sein. Diese diffuse Religiosität, die von vielen vielleicht mit Meditation, Yoga, Achtsamkeitskursen oder anderem gelebt wird, zeigt, wie groß die Sehnsucht nach Sinnfragen des Lebens ist.
Welche Gruppe erreicht das House of One nicht so einfach?
HOHBERG Menschen, die keine Fragen haben, nicht nach ihrem Selbstsein, nach dem, was das Menschsein ausmacht, nicht nach dem Sinn des Lebens. Der katholische Theologe Tomás Halik nennt sie Apathiker. Da ist das Gespräch schwierig.
SANCI Ich sehe drei Bereiche: Erstens das Gottesverständnis, zweitens die Religionspraxis und drittens die zwischenmenschlichen Beziehungen. Was den ersten Punkt betrifft, so heißt säkular nicht atheistisch. Das können Menschen sein, die glauben, aber keine Religionspraxis haben. Da kann es eine Verbindung geben. Muss aber nicht. Mit Atheisten fehlt bei den zwei ersten Punkten die Anknüpfung. Letzten Endes aber haben wir immer einen Bereich mit allen anderen Weltanschauungen, in dem es Überschneidungen gibt: das Zwischenmenschliche. Dieser Bereich ist nicht zu unterschätzen. Wir stehen für Gleichberechtigung wie jeder vernünftige Mensch. Wir haben so viele Gemeinsamkeiten, die wir religiöse Menschen mit der säkularen und atheistischen Welt teilen. Wir sitzen im gleichen Boot, wir können zusammenarbeiten.
Wie kann das gelingen?
NACHAMA Ein Beispiel: Gerade hat das Bundesverfassungsgericht über das Berliner Gesetz zum Mietendeckel entschieden. Ich musste an das jüdische Konzept des Jubeljahres denken. Das besagt, dass alle fünfzig Jahre der Besitz aufgelöst und neu verteilt wird. Das ist in dem Teil der Bibel, der Tora heißt, niedergelegt. Wir könnten also zu der Frage ‚Wem gehört eigentlich die Stadt?‘ biblische Konzepte heranziehen. Nicht um sie eins zu eins umzusetzen, aber als Beispiel dafür, Wohnraum einmal anders zu denken. Wenn wir uns auf diese Weise den Fragen der Zeit stellen, kommen wir auch mit Menschen ins Gespräch, die mit Spiritualität vielleicht nichts zu tun haben.
HOHBERG Das ist eine wunderbare Idee, die zeigt, dass es unglaubliche Erfahrungsschätze in unseren jeweiligen Traditionen gibt. Diese Erfahrungen sind kulturelle Ressourcen.